Sexualisierte Gewalt an Kindern verhüten und erkennen: was tun bei einem Verdacht auf sexualisierte Gewalt? – Qualität im KindesschutzInteressengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz

Sexualisierte Gewalt an Kindern verhüten und erkennen: was tun bei einem Verdacht auf sexualisierte Gewalt?

Qualitäts-Werkstatt Zürich: Sexualisierte Gewalt an Kindern verhüten und erkennen: Was tun bei Verdacht auf sexualisierte Gewalt. Die vierte Qualitäts-Werkstatt in Zürich widmete sich dem Erkennen und der Verhütung sexueller Gewalt an Kindern. Das Wetter in Zürich war 35 Grad heiss, die Diskussionen waren es nicht minder.

«Sexualisierte Gewalt an Kindern verhüten und erkennen: was tun bei einem Verdacht auf sexualisierte Gewalt?». Unter diesem Titel wurde am 26. Juni 2019 in Kooperation mit der ZHAW Soziale Arbeit die vierte Qualitäts-Werkstatt in Zürich durchgeführt. Zu dieser kostenlosen Fachveranstaltung waren Fachpersonen unterschiedlicher Professionen und Disziplinen eingeladen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten (z.B. im Heim, Schule, Kita, Spital) oder die im zivilrechtlichen, strafrechtlichen und freiwilligen Kindesschutz mit Abklärungs-, Unterstützungs- und Entscheidungsaufgaben befasst sind.

Im Zentrum der Fachveranstaltung standen die Fragen, wie mit einem Verdacht auf sexualisierte Gewalt an einem Kind umgegangen werden kann, welche Vorgehensweisen und Verfahren es gibt und wie sexualisierte Gewalt an einem Kind verhütet und besser erkannt werden kann.

Nach zwei anregenden Kurzinputs, gehalten von Fw mbA Thomas Werner, Chef Ermittlungen Kinderschutz der Stadtpolizei Zürich und Dr. med. Renate Hürlimann, Oberärztin Fachbereichsleitung Kinder- und Jugendgynäkologie sowie Mitglied der Kinderschutzgruppe des Kinderspitals Zürich leiteten die Moderatorinnen, Clarissa Schär (Vorstandsmitglied der Interessengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz) und Christina Weber Khan (Koordinatorin der Interessengemeinschaft für Qualität im Kindesschutz und unabhängige Kinderrechtsexpertin) zur Plenumsdiskussion über, in der sich die anwesenden Fachleute interessiert und vielfältig über unterschiedliche Facetten des Themas austauschten.

Die Diskussionen changierten zwischen zwei zentralen Fragen: Was braucht das sexuell misshandelte Kind bzw. der/die sexuell missbrauchte Jugendliche und was braucht es für ein Strafverfahren gegen den/die vermeintliche Täter*in? Wie sich zeigte, sind diese beiden Fragen nicht nur zentral für das behandelte Thema, sie stehen auch in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zueinander. Meistens sind es die Eltern sexuell misshandelter Kinder, die eine kindergynäkologische Untersuchung wollen, um sich Gewissheit zu verschaffen und strafrechtliche Massnahmen einzuleiten. Viele Formen der sexuellen Übergriffe auf Kinder sind aber durch eine gynäkologische Untersuchung nicht nachzuweisen. Entgegen der landläufigen Meinung handelt es sich bei kinder- und jugendgynäkologischen Untersuchungen aber nicht um invasive Untersuchungen des Intimbereichs der Kinder. Im Gegenteil, die Fachpersonen des Kinderspitals Zürich arbeiten bei solchen Untersuchungen ohne Instrumente, sie betrachten den Intimbereich nur und bauen diesen Teil der Untersuchung in eine Ganzkörperuntersuchung des Kindes ein, wie es sie von kinderärztlichen Untersuchungen gewohnt ist. Nur bei Spurensicherungen innerhalb von 72 Stunden nach der sexuellen Misshandlung werden oberflächliche Abstriche vorgenommen. Die Untersuchungen sind insgesamt so angelegt, dass sie nicht zu einer (Re-)Traumatisierung des Kindes führen. Die Befunde der Untersuchung können für das betroffene Kind sogar einen Schritt der Verarbeitung darstellen.

Um im Wohl und im Willen des Kindes handeln zu können, ist es darüber hinaus notwendig, das Kind bzw. den/die Jugendliche*n so zu beraten, dass Mitwirkung und informiertes Entscheiden ermöglicht wird. Strafanzeigen über den Kopf des Kindes bzw. des/der Jugendlichen hinweg, sollten vermieden werden. Im Vordergrund der Entscheidung für oder gegen eine Strafanzeige steht die Zumutbarkeit für das betroffene Kind bzw. den/die betroffene*n Jugendliche*n, also eine Abschätzung der Konsequenzen und Erfolgschancen des Verfahrens. Gleichwohl sollte das betroffene Kind, um die beiden gesetzlich erlaubten Befragungen des Kindes im Rahmen eines Strafverfahrens durch geschultes Personal nicht zu behindern, vorab nicht zu stark befragt werden. Der Realisierung eines möglichst ungestörten Strafverfahrens steht dann die Unmöglichkeit einer fundierten Entscheidung für eine Strafanzeige gegenüber.

Im Spannungsfeld zwischen dem, was das Kind braucht und dem, was das Strafverfahren braucht wurde aber auch sehr deutlich, dass das Strafverfahren nicht die Lösung darstellt. Nach dem Strafverfahren bleibt das Kind mit seinen Erlebnissen zurück und es ist eine Realität, dass viele Strafverfahren aufgrund von Mangel an Beweisen eingestellt werden müssen. In der Stadt Zürich wird daher darauf geachtet, dass im Rahmen eines sorgfältig geplanten Vorgehens mit Einleitung eines Strafverfahrens die KESB und die Opferhilfestelle informiert werden, um Hilfe für das Kind organisieren und die langfristige Sicherung des Kindeswohls in Angriff nehmen zu können. Dennoch kann ein Strafverfahren auch dann Positives bewirken, wenn es nicht zu einer Verurteilung führt.

In der gemeinsamen Diskussion wurden für Fachpersonen wichtige Hinweise zur Bearbeitung dieses Spannungsfeldes benannt: So wurden die Möglichkeiten anonymer telefonsicher Beratungsstellen zum Erkennen, zum Vorgehen und zur Entscheidfindung bezüglich einer Strafanzeige hervorgehoben. Es existieren verschiedene solcher Beratungsstellen, deren Kompetenzen und Erfahrungen in ihrer Unterstützungsfunktion kaum überschätzt werden können. Die Diskussionen haben auch zu einem altbekannten Zitat von Ulrich Lips, der die Kinderschutz gruppe im Kinderspital Zürich wie auch den Kinderschutz in der Schweiz massgeblich geprägt hat, zurückgeführt: «Kindesschutz nie alleine.» Wer in einen Fall sexueller Misshandlung eines Kindes involviert ist, sollte keine Entscheidungen alleine treffen. Das Fachteam ist eine genauso wichtige Ressource wie z.B. regionale Kinderschutzgruppen. Weitere hilfreiche Aspekte wurden darin benannt, dass alle Beobachtungen und ggfs. Äusserungen des betreffenden Kindes sorgfältig dokumentiert werden sollten, um Verdachte zu erhärten oder zu zerstreuen und um informationsbasierte Entscheidungen treffen zu können. Ebenso sollten Institutionen, die mit Kindern arbeiten, über Regelungen im Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt verfügen und sollten Schnittstellen zwischen verschiedenen Institutionen geklärt haben, um Rollen- und Erwartungsklarheit zu erreichen. Dennoch – so das Fazit der Diskussionen – sind Fachpersonen und alle Beteiligten im Kontext sexualisierter Gewalt gegen Kinder Unsicherheiten und Unklarheiten ausgesetzt, die ausgehalten werden müssen.

Clarissa Schär

 

 

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